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Prolog

 

Ein schöner Tag neigte sich einem Traum entgegen. Ich stieg mit bester Laune aus der Dusche, zog den neuen, rot-gelb gepunkteten Schlafanzug an und reinigte mit rund 96 Millionen Luftschwingungen pro Minute meine Zähne, kratzte mich gähnend im Nacken und an der Schulter, schaltete den LED-Fernseher ein und legte mich ins Bett.

Bald wurde es wohlig warm unter meiner Federdecke. Ich klickte in meinem Streaming-Dienst auf „Start Channel Surfing“, zappte durch die Mediathek und entschied mich schließlich schlafentspannt für Audio-Streaming. Mit Wagners Der Ring des Nibelungen schlummerte ich im Vorspiel von Das Rheingold ein. Das letzte, was ich wahrnahm, war, wie meine rechte Hand meine kitzelnde Schulter schrappte, meine linke durch die Haare kraulte und ich mich behaglich im Schlaf verlor.

  „Hallo Roland! Ich bin Anton.“

  „Anton?“

  „Ja, Anton, dein Floh!“

  „Mein Floh?“  

  „Du weißt es vielleicht noch nicht, aber ich bin heute bei eurer Wanderung auf dem Drachenfels hinter deinem Ohr erwacht. Als ich den Rhein und die Nibelungenhalle sah, freute ich mich, genau auf dem Richtigen gelandet zu sein“, raunte die Stimme.

  „Gelandet zu sein?“

  „Ich bin erschöpft und habe Jahrhunderte gesehen, von denen ich dir gerne erzählen möchte.“

  „Jahrhunderte gesehen?“

  „Davon möchte ich dir gerne erzählen. Aber vor allem möchte ich dir mein Herz ausschütten, denn ich trage eine schwere Last. Darf ich?“

  „Ja.“

  Und schon begann Anton mir einige seiner wundersamen Erlebnisse ins Ohr zu flüstern. Die erstaunlichste von all diesen Erzählungen aber war die, in der er mir die Wahrheit über Siegfried, den König der Nibelungen anvertraute.

 

 

1

 

Seine Familie könne auf eine sehr lange Ahnenreihe zurückblicken und sei seit 1049 im Kölner Stift St. Maria im Kapitol historisch bezeugt, erzählte mir Anton voller Stolz.

  Keine andere als Äbtissin Ida, die Enkelin von Kaiser Otto II und seiner Gemahlin Theophanu, rief damals höchstpersönlich unvermittelt in die Kirchweihe: „Ja, zwickt‘s mi!?“ worauf der sonst eher in sich ruhende Papst Leo IX, für alle überraschend, sein Zeremoniell tief Luft holend unterbrach und ins Kirchenschiff wetterte: „Himmelherrgott, ist es denn nicht möglich, während der Kirchweihe ohne Zwischenbemerkungen zu schweigen. Sich wenigstens einmal in dieser kurzen, kostbaren Zeit zu besinnen, um sich hingebungsvoll in Gott zu versenken!?“ Aufgebracht wie er war, entfuhr ihm noch ein „Himmel, Arsch und Zwirn!“, bevor er sein Gebetbuch packte und in der Sakristei verschwand. Die anwesenden Stiftsdamen saßen wie erstarrt auf ihren harten Kirchenbänken; einige sackten gar unauffällig in eine kurze Ohnmacht.

 

Und weiter erzählte Anton, dass im 16. Jahrhundert ein Großteil seiner Vorfahren bei einer unglückseligen Schifffahrt von Köln nach Mainz mit ihren Wirtinnen – so nannte seine Familie die Stiftsdamen – im Rhein ertranken. Dies sei ein vergleichsweise bedauerlicher Tod, bedenke man, dass Flöhe seit jeher von den Menschen als blutsaugende Parasiten hart und herzlos zerdrückt, verbrannt, ersäuft, kurz: vernichtet werden. Seine Ahnen hätten die ereignisreiche Klostergeschichte, auf althergebrachte Weise an die nächste Generation weitergegeben und immer darauf geachtet, in ihrer Heimat zu bleiben. Gerade Klosterflöhe seien sehr sesshaft und gebildet, wisperte Anton in mein Ohr.

 

2

 

Man schrieb das Frühjahr 1801, als Anton, der Klosterfloh, in dem zerschlissenen Polsterschemel eines Beichtstuhls das Licht der Welt erblickte. Da er bereits als Junghüpfer sehr wissbegierig war, schickten ihn seine Eltern zur Äbtissin Antonetta in die Ausbildung. Die Äbtissin war eine sehr belesene, gemütliche Frau in mittleren Jahren, die sich wie keine andere darauf verstand, die alten Traditionen zu wahren. Trotz der napoleonischen Unruhen samt dem Vorhaben, auch dieses Gotteshaus aufzuheben – zu säkularisieren, wie die Menschen das nannten –, verwaltete sie St. Maria im Kapitol mit kluger Entschlossenheit.

  Anton nahm unauffällig, aber eifrig seine Studien auf und schaute gewissermaßen seiner Lehrmeisterin über die Schulter. Durch eine glückliche Fügung war er der einzige Floh auf Antonetta. Anton lernte Latein, Griechisch und verstand sich auch bald auf die Deutung der Bibel. Stellenweise legte er sie sogar etwas anders aus als seine geschätzte Äbtissin. Besonders die Stelle aus dem Jacobus-Brief ‚Ja doch, wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst, so tut ihr recht’, sollte von Güte handeln, war aber aus Antons Blickwinkel nicht mehr als ein nichtssagender Unsinn.

  Auch Geistliche mögen keine Flöhe. Als er eines morgens beim Auskleiden an Antonettas Busen beim Blutsaugen überrascht wurde, sprang sie kurzerhand samt Ordenstracht ins heiße Badewasser. Nervenzerreißend war Antons Flucht vor den schlagenden Händen und schnippenden Fingern seiner frommen Wirtin – da war von Nächstenliebe nichts zu spüren. Mehr als einen ganzen Nachmittag lang hielt er sich schmollend von Antonetta fern, beschloss dann aber abends – wieder milder gestimmt – zu seiner gelehrten Abtissin zurück zu hüpfen, vergab ihr die Mordgelüste und stach zu einem herrlichen Schmaus beherzt in ihre Wade. Wo sollte er als wissenshungriger Klosterfloh denn sonst auch hin?

  In der kurzen Zeit, die er noch auf Antonetta verweilen durfte, richtete er sich sehr behaglich ein. Sein erstes Weihnachtsfest, das leider auch schon das letzte auf seiner Wirtin sein sollte, rückte näher.

 

Es war der 24. Dezember 1801, wenige Monate vor der Auflösung des Klosters. Draußen schneite es ohne Unterlass. Der Heilige Abend war bitterkalt, das Weihnachtsfest wunderschön und Antons Festschmaus – das Blut der jungen Stiftsdame Adelheit – eine schwebendzarte Köstlichkeit. In den späten Nachtstunden geschah etwas Seltsames. Antonetta war, wie so oft, beim Lesen eingeschlafen. Als sie sich umdrehte, fuhr Anton erschrocken aus dem Schlaf. Im Zwielicht der noch brennenden Kerze und des Mondes sah er eine nicht mit der Vernunft erklärbare Erscheinung. Der kondensierte Atem der Äbtissin drang als Wolke in das Schummerlicht und formte darin eine helle, sich langsam bewegende Gestalt. Schemenhaft erkannte Anton das Gesicht eines jungen Burschen mit faszinierenden wasserblauen Augen, edlen Gesichtszügen und blond gewelltem Haar. Ein Kribbeln durchfuhr ihn: „Der Heiland, Gottes Sohn!“ Sicher galt die Vision nicht ihm, einem Floh, vielmehr der Äbtissin. Obwohl er Antonetta mit einem Stich in die Wange wecken wollte, ließen ihn seine durcheinanderpurzelnden Gedanken verharren. Die Gestalt schien unmissverständlich ihm, einem unbedeutenden Klosterfloh, etwas mitteilen zu wollen. Die Äbtissin drehte sich erneut und Anton konnte nun nichts mehr sehen – wie ärgerlich. Ein eigentümlicher, ein herrlicher Geruch lag in der Luft. Anton war aufgewühlt, versuchte sich diese Erscheinung zu erklären, hüpfte auf die Schulter der Äbtissin – fort – verflogen. Durch das Fenster sah er die schweigend herabblinkenden Sterne und spürte, wie sie irgendwo in der Unendlichkeit auf ihn zu warten schienen. Anton blieb noch eine Weile grübelnd hocken, erst als der Morgen anbrach, schlief er ein.

 

Im Frühjahr 1802 hatte er die sonderbare Weihnachtserscheinung vergessen. Schließlich war er ein Floh, der sich von seinem Verstand leiten ließ und nicht von umhergaukelnden Hirngespinsten.

  Wenige Tage vor Pfingsten fühlte er eine ungeahnte Lässigkeit in sich aufkeimen – Maiblut. Der Marienmonat fegte durch das Kloster, die Ordensfrauen tanzten auf frühlingsdampfenden Wiesen freudig singend ihre Reigen, Vögel zwitscherten munter von den knospenden Bäumen und ein Brief aus Rom flatterte in die Hand der Äbtissin – sie musste nach Italien reisen. Kein geringerer als der Papst berief die klügsten Köpfe seiner Kirchenoberhäupter an den Heiligen Stuhl, um einen leidlich erfolglosen Streit mit Napoleon Bonaparte beizulegen und die Wiederherstellung des Katholizismus voranzutreiben.

 

„Also dann, auf nach Rom!“ freute sich Anton.

  Mit einem Köfferchen in der Hand stand Antonetta am Pfingstsonntag vor den Ordensschwestern zum Abschied bereit. Anton hing – berauscht vom Frühling – leichtsinnig an Antonettas Ohrläppchen und stärkte sich für die lange Reise.

  Auf einem Wochenmarkt in Innsbruck trennten sich jedoch ihre Lebenswege. Während einer Unterhaltung seiner Äbtissin mit einem schottischen Whiskyverkäufer konnte Anton es nicht lassen, – nur eine kurze Verkostung – schottisches Blut zu probieren: Absprung, halsbrecherische Landung auf dem Brustbein, Einstich, Saugen, Schmecken, plötzlicher Tumult, Ende der Degustation. Ein Landstreicher riss ein Fass Whisky von der Kutsche und rannte mit der Beute davon. Ohne dass Anton auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte, zur Äbtissin zurückzuspringen, spurtete der Schotte hinter dem Halunken her. Zwei weitere Schurken stürmten von der Seite heran, packten den Schotten, zerrten ihn in eine Seitengasse und schlugen auf ihn ein.

„Was für eine hinterhältige Falle“, empörte sich Anton, der glücklicherweise knapp neben einem heftigen Faustschlag zwackte, der den Schotten bewusstlos zu Boden streckte.

  Und hier, in der Gosse, nahm Anton wieder diesen himmlischen, mit Worten nicht zu beschreibenden Geruch wahr. Er wehte aus einem dunklen Kellerloch zu ihm empor, und ihm war, als sähe er inmitten einer diffusen Lichtwolke wieder dieses blonde Wesen, das ihn mit großen, klagenden Augen anschaute. Der Duft betörte seine Sinne, das Zeitempfinden wich unangenehm aus dem Bewusstsein. Anton sank nieder.

 

Als er aufwachte, war der Geruch noch schwach vorhanden, aber verflüchtigte sich in salziger Luft. Anton verstand die Welt nicht mehr: Möwengeschrei. Er wachte auf einem Leuchtfeuerwärter im Leuchtturm vor einem südenglischen Hafen auf! Wie und warum er dort hingekommen, vor allem, wo dieser schottische Whiskyverkäufer abgeblieben war, blieb für immer ein Rätsel.

  Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Anton sich plötzlich an einem unerwarteten Ort in einer unerwarteten Lage wiederfand. Ohne es zu wollen oder zu wissen, geschah es, dass er entweder schlafend Zeitsprünge machte oder sich durch gewohnte Hüpfer, wie beispielsweise vom Ohr in den Nacken, in der Zeit verlor. Erst schlief oder hüpfte er einige Tage, dann einige Monate durch die Zeit, schließlich wirbelte er durch ein Jahrzehnt und befand sich in einem Zeitgeschehen, ohne verjüngt oder gealtert zu sein, was ihm ausnehmend gut gefiel. Ein sehr unangenehmer Nebeneffekt war allerdings, dass er sich nach den Zeitsprüngen schlapp fühlte und geradezu ausgehungert war. Die geheimnisvolle Gestalt in der leuchtenden Wolke nahm er ein letztes Mal nachts auf der jungen Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff wahr. Auch der Duft, der die merkwürdige Erscheinung bis dahin immer begleitet hatte, blieb seither aus. Die unbeabsichtigten Zeitsprünge jedoch hielten an. Er nahm sie gelassen und bemühte sich nach dem Erwachen, möglichst schnell auf Menschen zu hüpfen, um als kleiner blutsaugender Zeitsprungakrobat seinen Hunger zu stillen.

 

So kehrte er etwa im Spätfrühling mopsfidel auf Rudolf Virchow ein, der ihm an Seziertischen einen imposanten Einblick in die menschliche Anatomie verschaffte. Das war wenige Wochen, bevor Otto von Bismarck den berühmten Pathologen Virchow über einen Sekundanten überraschend zu einem Duell herausforderte, dessen Ausgang Anton nie erfuhr, da er die Antwort Virchows ’es sei keine zeitgem’ als Widerhall wahrnahm, ehe der Tonfall sanft verhauchte. Anton lauschte noch für einige Augenblicke. Er wunderte sich, dass gerade ihm so etwas passieren musste, als er sich unvermittelt auf dem gemütlichen Maler Carl Spitzweg wiederfand. Mit ihm kam er viel an die frische Luft. Ganz besonders stolz ist Anton auf das Gemälde „Der arme Poet“, auf dem er selbst, Anton, der Floh, höchstpersönlich von Spitzweg gemalt, zwischen den Fingern eines befreundeten mittellosen Dichters in einer armseligen Münchener Dachstube künstlerisch festgehalten worden ist. Zugegeben, keine ungefährliche Situation. Noch ehe Anton von Spitzweg künstlerisch vollendet werden konnte, durchschlüpfte er mehrere Jahrzehnte und fand sich in der stattlichen Höhe von 1,91 Meter baumelnd an den schwarzen, ondulierten Haaren von König Ludwig II. von Bayern wieder. Der König verbrachte seine Sommerfrische gern auf seinem Lieblingsgrundstück, das wenig später sein Märchenschloss Neuschwanstein schmücken sollte. Anton wiederum verbrachte eine ausnehmend lange, aber sehr kurzweilige Zeitspanne auf dem Märchenkönig. Der Monarch war so verspielt, dass er – wie im Märchen von „Dornröschen“ – eigens eine Rosenhecke anlegen ließ, nur um sie galant mit dem Schwert zu durchschlagen. Er bahnte sich seinen Weg zu einer Brunnenattrappe, auf der ein leibhaftiger, dicker Frosch hockte. Als Märchenprinz verkleidet gab er dem Frosch einen spitzlippigen Kuss und sprang zurück. Richard Wagner, sein Lieblingskomponist, kletterte ächzend aus der Attrappe. Oben angekommen, blies er eine in Mark und Bein gehende Fanfare.

  Bebend vor schwärmerischer Begeisterung vergötterte der junge Ludwig den älteren Komponisten, fantasierte sich in die Sagenwelt seiner Opern hinein und fieberte sehnsüchtig dem Tag entgegen, an dem Wagner sein mehrtägiges Bühnenfestspiel aufführen würde: „Der Ring des Nibelungen“!

  Schon bald hatte der König ein Festspielhaus eigens für Wagner in Bayreuth errichten lassen. Ein großer Traum wurde Wirklichkeit – endlich!

 

Der Komponist war nicht mehr der Jüngste, dafür aber der exzentrischste Wirt auf den Anton wenige Tage vor der Uraufführung aufgeregt herüberwechselte. Selbstverständlich wählte er den besten Platz – Wagners Ohr. Der Maestro betrat den Opernsaal, schritt zu seinem Dirigentenpult und sammelte sich mehrere Minuten. Anton neigte seinen Rüssel würdevoll an das zartdurchblutete Ohrläppchen des Komponisten. Im Saal herrschte erwartungsvolle Stille. Anton stieß zu, Wagner zuckte und mit einer winzigen Verzögerung schwangen die ersten Töne durch den Saal.

  Es-Dur: dunkles Brummen, in das sich wie aus weiter Ferne eine schwankende sonore Schwere einschmiegte, sanft durchwebt von hellen Tönen, verstärkt durch trudelnde belebende Schwingungen, wild heranwachsend zu einer kolossal brandenden Wucht. Nach dem alle vorhandenen Instrumente in verschwenderischem Einsatz waren, wurde Anton von einer Urgewalt aus Wagners herumwirbelnden Kopf aus den Haaren durch die Luft geschleudert und fürchtete, auf einen der ohrenzerreißenden Blechblasinstrumentalisten zu stürzen. Er sah nur noch, wie sich die Backen der Tubaspieler blähten, wehte über dem Trichter einer Tuba kurz aufwärts und verlor sich in den Schwingungen eines Basstons. Nun geschah ein Zeitsprung, der selbst für seine Verhältnisse eine ungeheuerliche Dimension erreichte: Zum ersten Mal wurde Anton um anderthalbtausend Jahre in die Vergangenheit versetzt, – und das sofort nach nur zwei mundvollen Schlucken.

 

3

 

Schlaftrunken öffnete Anton die Augen. Er blinzelte in die Sonne, die warm und goldglänzend durch die frischen jungen Blätter belaubter Baumkronen glitzerte. Es zwackte ihn am Hinterteil, das in einer Baumrinde eingeklemmt war.

  Anscheinend hatte es kurz vorher in Strömen geregnet, denn Wasser rann von dem Baumstamm herab. Ringsherum tropfte es auf den Waldboden. Durch die hellgrünen Baumwipfel züngelten in der Tiefe des Waldes Blitze, die von leiser werdendem Donnergrollen begleitet wurden. Zwei erbärmlich gekleidete Holzfäller tauchten vor ihm auf, die mit wohl selbst gefertigten Äxten – wahre Mordinstrumente – die umstehenden Bäume musterten. Einer von ihnen packte das Bäumlein, an dem Anton hing, und schüttelte es kräftig.

  „Zu schief.“

  „Ja, zu schief.“

  „Zu jung.“

  „Viel zu jung.“

  „Zu schwach.“

  „Scheiß schwach.“

  Aha, dachte Anton. Zu gerne hätte er gewusst, in welcher Zeit er sich befand. Er befürchtete das Schlimmste. Durch das Schütteln konnte er zumindest sein Hinterteil befreien, rutschte an der grauen Rinde zu Boden und landete im nassen Gras. Die Stimmen der beiden Holzfäller wurden leiser. Noch nicht Herr seiner Sinne ahnte Anton, dass er einen verhängnisvollen Fehler gemacht hatte. Er wäre besser zu einem dieser Burschen gesprungen, hätte an ihm seinen Hunger gestillt, um dann satt und zufrieden weitere Pläne zu schmieden. Die Holzfäller waren verschwunden.

  „Zu spät“, dachte er, „vorbei ist vorbei“.

  Ihm war, als wäre er aus einem endlosen, traumlosen Schlaf erwacht. Seine sechs Beine, besonders das hintere, sehr kräftige Beinpaar, waren für Erkundungssprünge noch zu schlaff – immerhin spürte er ein angenehmes Kribbeln in ihnen.

  Ein Regenwurm näherte sich. Anton ließ ihn teilnahmslos über seinen Körper hinwegglitschen. Sicher würde er bald verhungern und innerlich ausgetrocknet – dem Universum preisgegeben – liegen bleiben. Er würde noch nicht einmal von einer Ameise aufgegriffen werden, die ihn in das tiefe Labyrinth eines Ameisenbaus schleppte, wo er wenigstens – wie es sich gehört – hätte aufgefressen werden können. Er fühlte sich unbeschreiblich unwohl. Vogelgezwitscher und das Summen von Insekten waren zu hören, sonst nichts – keine Kirchenglocken, kein Orgelspiel.

  „Wahrscheinlich wäre es klug, etwas Sinnvolles zu unternehmen“, waren seine langsamen Gedanken. Und ehe sich ein weiterer Gedanke formen konnte, sprang er wie von selbst nach oben, orientierte sich rasch und hätte schreien können, als er wieder zu Boden fiel. Es bestätigte sich, was er bereits ahnte – Wildnis um ihn herum. Ein Waldmistkäfer stakste auf ihn zu. Kurzentschlossen sprang Anton auf den Käfer und ließ sich von ihm einige Zeit tragen. Sehr zügig ging es nicht voran, und es kam Anton so vor, als irrte der Käfer eifrig, doch scheinbar ziellos über den Waldboden. Der Grund wurde schnell klar: Ein weiterer Waldmistkäfer stand vor ihnen, offenbar ein Weibchen, denn Antons Mistkäfer erzeugte trillernde Zirpgeräusche, was das Weibchen erregt veranlasste, fortzulaufen. Nun folgte der Käfer dem Weibchen, und Anton war erstaunt, wie schnell er auf einmal krabbeln konnte. Rasant ging es einige Zeit unter Stöckchen und über Steinchen weiter, bis sie auf einen kleinen Weg stießen, diesen überquerten und das Weibchen unvermittelt seinen Lauf am Wegesrand stoppte, sich in die Erde grub und unterirdisch seltsame Laute von sich gab. Diese machten seinen Waldmistkäfer ganz wild. Ungestüm wurschtelte er hinter ihr her. Anton beendete seine Teilnahme an dem amourösen Abenteuer, indem er von dem liebestollen Käfer absprang. Immerhin befand er sich nun auf einem Weg, und konnte in die Ferne schauen.

 

Eine halbe Ewigkeit verging, ohne dass etwas passierte. Kein Mensch, kein Tier, auf das er hätte hüpfen können. Lediglich krabbelnde Doppelfüßer, Steinkriecher, Rote Samtmilben und allerhand Spinnengetier kroch um ihn herum.

  „Ihr wisst wenigstens, was ihr zu tun habt, aber ich, ein wissenshungriger Menschenfloh in einer menschenleeren Wildnis, verflixt, wie soll das enden?“, plärrte er einem Trupp Feuerwanzen hinterher.  

 

Tatenlos blieb er gut zwei Tage an Ort und Stelle hocken, bis ihm der Zufall einen Menschen sandte, der glücklicherweise genau vor ihm am Wegesrand stehen blieb. Es war ein junger Bursche mit dichtem, blondem Haar, einem hochgewachsenen, straff gespannten Körper und verlockend schmackhaften Waden, der nun die Hose halb herunterzog und zu strullern begann. Anton sah nur noch Waden, schweißverschmierte Waden.

  „So – dann wollen wir mal“, rief er freudig.

  In erwartungsvoller Erregung sammelte er seine letzten Kräfte, spannte seine Hinterbeine wie einen Bogen, und mit einem letzten Aufgebot an Kraft flog er mit nach vorne gestrecktem Saugrüssel pfeilschnell in Richtung der linken Wade, drang tief in sie ein und verschluckte sich vor lauter Gier beinahe an dem frischen Blut – eine Unart, welche oft tödlich für Flöhe endet.

  „Niemals unüberlegt und hastig einstechen“, lautet die oberste Regel unter cleveren Flöhen. Fast ohnmächtig vor leidenschaftlichem Zittern beruhigte er sich langsam von dieser grandiosen Mahlzeit. Als der Bursche sein Bächlein gelassen hatte, seine Hose zuband und weitergehen wollte, hob er spontan sein rechtes Bein, um sich mit dem Fuß an der linken Wade zu kratzen, genau da, wo Anton hing.

  Scheiße, hätte er fast gedacht, aber sein entsetzter Aufschrei war schneller als sein Gedanke. Brutal rieb ihn der Fuß von seinem Saugplatz über die Wade hoch in die Kniekehle. Ganz aufgewühlt rettete sich Anton nach oben in den Rand des Hosenbeins. Hier war er halbwegs gut versteckt und schaute auf die leicht blutige Einstichstelle an der Wade herab. Er beobachtete, wie der Bursche sich nach hinten beugte und kratzte. Anton hatte seinen Saugplatz nicht ordnungsgemäß verlassen und verstieß damit gegen Grundregel Nummer Zwei: Essplatz sauber und geschickt verlassen, da sonst der Wirt den Flohstich entdeckt, den Übeltäter sucht, findet und knackt.

  „Das Ende eines Flohlebens. Ich weiß, ich weiß“, ärgerte er sich laut.

  Dieser Junge aber schien noch nicht viel Ahnung von Flohstichen zu haben, da er eine Stechfliege verantwortlich machte, die sich rein zufällig soeben an seiner Wade niederließ. Als sie Anstalten machte, zuzustechen, war sie – klatsch – platt. „Arme Stechfliege!“ dachte Anton, der zugleich froh war, sein Leben um Haaresbreite gerettet zu haben.

 

Ziemlich genau jetzt verspürte er ein nie zuvor erlebtes Wohlgefühl. „Eine außergewöhnliche Köstlichkeit, die durch die Adern meines neuen Wirtes strömt“, freute sich Anton, „darüber hinaus ein sehr sättigendes und außerordentlich stärkendes Blut.“ Am liebsten wäre er von diesem Burschen direkt auf den Weg zurückgehüpft und gehüpft und gehüpft und gehüpft. Gott sei Dank siegte seine Vernunft und er blieb glückerfüllt auf seinem Wirt zwacken. Die wiedergewonnene Energie wollte er vernünftigerweise dazu nutzen, sich zu seinem Lieblingsplatz aufzumachen. Der schnellste und sicherste Weg ist, zwischen den Pobacken entlang durch die Mulde des Rückgrats zum Nacken hinaufzukraxeln, sich dann behutsam, ohne seinen Wirt zu kitzeln, an den Haaren weiter zu hangeln und von da aus den kürzesten Weg direkt zum rechten oder linken Ohr zu nehmen.

  Noch ehe Anton seine Reise zum Ohr antreten konnte, spürte er, dass sein neuer Jungwirt sich hinhockte und wie ein vor Kraft berstender Junghengst lospreschte, was das Aufwärtskommen für Anton angenehm beschleunigte. Die rhythmische Laufbewegung wusste er hüpftechnisch rasch für sich umzusetzen. Schon war die Gürtelzone überflogen und er stob die lange Mulde des Rückgrats zum Nacken hinauf. Wie ein leichtgewichtiger Jockey übersprang er herunterperlende Schweißtropfen. Sein Körper schoss über den Nacken hinaus und drang in das Labyrinth der Haare. Ein einziges Mal hatte er sich in den Haaren der jungen Schriftstellerin Selma Lagerlöf verfranzt. Damals hatte er sich nur unter großer Anstrengung befreien können. Dank seiner enormen neuen Kraft befreite er sich nun jedoch aus dem Haargewimmel des Burschen, indem er seinen Rüssel wie ein Schwert durch die Haare führte und sich ins Freie schlug. „Ich bin ja keine Laus“, grinste er.

  Wie immer die gleiche Frage, das linke oder das rechte Ohr? Kurzentschlossen kraxelte Anton vorsichtig in Richtung rechts. Sein Wirt lief unermüdlich durch hügelige Waldgebiete. „Welch eine Ausdauer“, staunte er und richtete sich am Ohr seines dahinsausenden neuen Wirtes sicher ein.

  „Ein merkwürdiger grobgewebter Stoff, den dieser Junge trägt, so leicht überall durchzuschlüpfen. Und alles so appetitlich unsauber, so richtig nach meinem Geschmack“, freute er sich.

 

Der Bursche lief durch dichte Tannenwälder, durchstieß Unterholz, übersprang moosbewachsene Baumstämme und näherte sich einer Waldschlucht mit reißendem Wasserlauf.

 „Niemals!“, fuhr es Anton durch den Kopf, doch schon flogen sie über den rauen Bergfluss und stürzten in donnerndem Getöse auf ein Felsplateau zu. Federnd traf sein Fuß das andere Ufer und schwungvoll ging es weiter. Endlich hinaus ins Freie, ans Licht, durch ein mannshohes Wiesenmeer, dann auf einen Weg, der schnurstracks zu einer uralten, riesigen, bizarr verwachsenen Buche führte. Der Wind brauste an ihnen vorbei, als würden sie aus dem Himmel fallen. Die Buche dicht vor ihnen; links verlief der Weg, rechts plätscherte ein Bach. Anton erwartete die Linkskurve – aber nein! Stattdessen befanden sie sich wieder in der Luft und flogen über den Bach. Sie stießen an etwas mattes, Nachgebendes. Der Bursche stürzte und rollte durch die Wildwiese, bis er nach einem Salto wie ein Fels in der Wiese stand.

 

Hui, keuchte Anton und schaute sich um. Er sah den Hügel, die Buche, und hinter ihnen, auf dem Boden liegend, erblickte er zwei schauerlich aussehende Gestalten, richtige Halsabschneider übelster Sorte, wie es Anton schien. Schwerfällig kamen sie auf ihre Beine, grinsten und krächzten kaum verständlich, „Gold her, sonst geht’s dir an die Gurgel!“

  „Nichts wie weg!“, dachte Anton und suchte ängstlich nach Möglichkeiten zur Flucht.

  „Nur zu, kommt her und kämpft, ihr kümmerlichen Gestalten!“, rief der Junge herausfordernd. Mit einem flinken Satz nach vorn zischte eine funkelnde Klinge von seiner Flanke durch die Luft und schnitt beiden Schurken mit einer einzigen Bewegung leicht die Nasenspitzen auf. Aus den dünnen Schnittstellen quoll Blut heraus. Die zwei taumelten ein paar Schritte nach hinten. Der Bursche grinste.

  „Du wirst nicht lang grinsen, Bürschchen! Dich machen wir kalt!“

  Brüllend stürmten sie auf den Jungen zu und schwangen bedrohlich ihre Schwerter zur Attacke. Der Bursche vollführte seinerseits einen kraftvollen Schwertstreich, der die Hiebe der Räuber geschickt durchkreuzte und ihre Schwerter aus den Händen in luftige Höhen schleuderte. So etwas hatte Anton noch nicht erlebt; aber auch die Banditen waren fassungslos.

„Jetzt zu euch!“, rief der Bursche und senkte sein Schwert auf Augenhöhe der beiden. Die wiederum schielten auf die bedenklich nahe glitzernde Schwertspitze, von der Blut herunter tropfte, zuckten ängstlich, als sie die blutende Nase des jeweils anderen bemerkten, und mit einem Aufschrei, der ihnen den ganzen Atem auf einmal herausstieß, nahmen sie Reißaus.

 

Der Bursche stand breitbeinig in der buntblühenden Wiese; führte mit nach oben gestrecktem Kopf sein Schwert dem Himmel entgegen und fing zu lachen an.

  „Du meine Güte, ist der stark!“ staunte Anton. „So viel Kraft kann nur ein Schmied besitzen“, überlegte er, „dafür spräche auch sein scharfes, in der Sonne blinkendes Schwert. Wie ein Spiegel, so glatt ist die Oberfläche gearbeitet, keine Zacken, keine Ecken, kein Kratzer, makellos wie dieser Jüngling selbst.“

 

Der Lauf ging weiter. Ohne erkennbare Erschöpfung legte der Bursche unendlich lange Wege zurück. Schon war der nächste Wald erreicht; wieder sauste er querwaldein durch dunkles, dichtes Nadel- und Blattgehölz, durchstob riesige Farngewächse und Sträucher. Wildschweine preschten quiekend auseinander; er sprang über Löcher und Felsbrocken, hinauf auf Anhöhen, hinunter in Täler, vorbei an Seen und Felslandschaften.

  „Wohin läuft er nur?“, fragte sich Anton, der schon wieder einen unangenehm bohrenden Hunger hatte.

  Eine Schmiede tat sich vor ihnen auf. „Recht gehabt“, dachte er zufrieden, „nun ist man also daheim. Eigenartig“, wunderte sich Anton, „warum lebt dieser Schmied in einer Höhle?“

 

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